Am Vormittag des 24. Juni diesen Jahres hat Max Mannheimer zum letzten Mal das Jugendgästehaus Dachau besucht und mit einer Schulklasse aus Köln im Rahmen eines Studienprogramms des nach ihm benannten Studienzentrums ein Zeitzeugengespräch geführt. Nina Ritz, pädagogische Leiterin des Hauses, hatte einen gut gelaunten Max Mannheimer am Morgen zuhause abgeholt, auf der Autofahrt nach Dachau wurde gescherzt und Max Mannheimer überwachte akribisch das Navigationsgerät. Die Kölner Schülerinnen und Schüler lauschten seinem Bericht so gespannt, dass man im Seminarraum eine Stecknadel hätte fallen hören können und anschließend wurden derart viele Fragen gestellt, dass das Gespräch die geplante Dauer weit überschritt. Zur Mittagszeit wurde Max Mannheimer von seiner Vertrauten Schwester Elija Boßler vom Kloster Karmel Heilig Blut abgeholt. Nachdem Rollstuhl und Tasche im Auto verstaut waren, verabschiedete er sich wie üblich mit Küsschen auf die Wange und einem knappen „Servus“. Die Termine für die nächsten Zeitzeugengespräche waren im Kalender eingetragen, die Einladung zur Internationalen Jugendbegegnung im August und auch zur Sitzung des Stiftungsbeirats Anfang Oktober an das Mitglied Max Mannheimer als Vertreter der Lagergemeinschaft Dachau verschickt.
Max Mannheimer ist nun am 23. September 2016 verstorben. Im hohen Alter von 96 Jahren und doch kann man sagen: mitten aus dem Leben gerissen und viel zu früh. Vieles ist bereits über ihn gesagt und geschrieben worden. Die glückliche Kindheit und Jugend des Kaufmannssohnes im damals tschechoslowakischen Neutitschein, die Verfolgung nach dem Einmarsch der Deutschen, die im Jahr 1938 ihren Anfang nahm, die Demütigungen, die Misshandlungen, die Folter, die er in den Konzentrationslagern erleiden musste: Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und die Dachauer Außenlager Karlsfeld und Mühldorf waren Stationen seines Leidensweges. Jung verheiratet sah er seine Ehefrau Eva an der Rampe in Auschwitz zum letzten Mal, ebenso seine Eltern und die kleine Schwester Käthe. Auch Max Mannheimers Brüder Erich und Ernst überlebten die Strapazen in Auschwitz nicht. Von seiner gesamten Familie waren sein Bruder Edgar und er die einzigen Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors. Und hier, im Überleben und Weiterleben, mit dem Schmerz der Verluste und den Traumata der Erfahrungen, beginnt ein neues Leben von Max Mannheimer. Das Leben, das heute eine Vielzahl von Menschen quer durch die ganze Gesellschaft – Freunde, Weggefährten, Zuhörer, Prominente und die internationale Presse – dazu veranlasst, ihn in Traueranzeigen und Nachrufen als „herausragende Persönlichkeit“ und als „großartigen Menschen“ zu ehren. Oder, wie Charlotte Knobloch in ihrer wunderbaren Trauerrede das aus dem Jiddischen stammende größte Kompliment zitierte: Er war a Mentsch!
Es ist ein Leben des „trotzdem“, fast ein kleines Wunder. Max Mannheimer hat es vermocht, an Schmerz und Trauer nicht zu zerbrechen, die Menschheit, die zu solchen Gräueltaten fähig ist, nicht nurmehr als Firnis zu begreifen, sondern die eigenen Erlebnisse in eine positive Botschaft zu übersetzen, die an die Zukunft gerichtet ist. Geholfen hat ihm auf diesem Weg seit den 1950er Jahren das Malen und auch wenn er sich im eigentlichen Sinne nicht als Künstler begriff, so signierte er seine Bilder mit einem Künstlernamen: ben jakov, Sohn des Jakob, zu Ehren seines ermordeten Vaters. Nachdem Max Mannheimers biografische Aufzeichnungen als „Spätes Tagebuch“ Mitte der 1980er Jahre unter anderem von der damaligen Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau Barbara Distel veröffentlicht worden waren, führte er Gespräche als Zeitzeuge mit Tausenden von Menschen. Hier waren es besonders die Jugendlichen, die ihm am Herzen lagen und für die er seine Botschaft auf den Punkt brachte: „Ich komme als Zeuge jener Zeit, nicht als Richter oder Ankläger. Ich erkläre den Schülern, dass sie nicht die Verantwortung tragen, was geschehen ist, wohl aber dafür, dass es nicht wieder geschieht. Ich hoffe, dass durch meinen Beitrag junge Menschen sensibel bleiben für alle Entwicklungen, die Demokratie und Menschenrechte gefährden.“
Es war diese unnachahmliche Art, seine Offenheit und Direktheit, mit der Max Mannheimer die Menschen einnehmen und für seine Anliegen gewinnen konnte. Er verschreckte sie nicht durch brüske Konfrontation, sondern machte sie mit viel Klugheit und hintergründigem Humor zu Komplizinnen und Komplizen. Er vertrat feste Überzeugungen und Standpunkte und kommunizierte zugleich über alle interkulturellen, interreligiösen und politischen Grenzen hinweg zugunsten von Humanität und einem friedlichen Zusammenleben. Viel war von dem Brückenbauer Max Mannheimer die Rede, aber dieses Bild ist nicht vollständig. Max Mannheimer hat Brücken nicht nur gebaut, sondern auch vorgelebt, wie man über sie geht und hat damit ihre Tragfähigkeit bewiesen. Inspiriert von der Begegnung mit Max Mannheimer, gaben unzählige Menschen seine Botschaft weiter. Sie übersetzten sein „Spätes Tagebuch“ in zahlreiche Fremdsprachen, sie gestalteten Ausstellungen zu seinem Leben und dem künstlerischen Werk, sie porträtierten ihn in Bildern und Geschichten, sie erzählten weiter, was er ihnen erzählt hatte.
Für seine Lebensleistung ist Max Mannheimer mit einer Vielzahl von Preisen und Ehrungen ausgezeichnet worden. Doch entscheidend ist das Vermächtnis, das er hinterlässt. Für uns, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Studienzentrums im Jugendgästehaus Dachau, das seinen Namen trägt, ist sein Tod ein unersetzlicher und schmerzlicher Verlust. Max Mannheimer hat sich seit Mitte der 1980er Jahre gegen große Widerstände beharrlich für die Errichtung einer Jugendbegegnungsstätte in Dachau eingesetzt. Über die Jahre ist er dabei für viele zum Freund geworden. Er war stets eine wichtige Stütze für die Wahrung und Gestaltung des pädagogischen Auftrags des Hauses. Sein Vermächtnis ist die Bildungs- und Erinnerungsarbeit zum Nationalsozialismus, der Einsatz gegen das Vergessen des Leids der Opfer und für Verständigung und Toleranz im Umgang miteinander. Wir werden den Menschen Max Mannheimer nicht ersetzen könnten, aber sein Vermächtnis bleibt unser Auftrag und sein Vorbild unsere Motivation.
Nina Ritz, 28. September 2016