Über 200.000 Häftlinge aus ganz Europa und darüber hinaus waren im Konzentrationslager Dachau und seinen Außenlagern inhaftiert. „Du kannst nicht an sechs Millionen Menschen erinnern“, diesen Satz habe ich mir von einem Studienaufenthalt in Israel mitgenommen. Auch 200.000 sind eine abstrakte große und unvorstellbare Zahl. Für das Gedenken und für die Vermittlung ist deswegen der Blick auf Individuen zentral. Eine Methode für die Studientage im Max Mannheimer Studienzentrum ist daher die Arbeit mit Biographien. Mittlerweile gibt es eine große Sammlung von Häftlingsbiographien, die für die Bildungsarbeit aufgearbeitet wurden. Die Häftlinge stammen aus verschiedenen Ländern, waren verschiedenen Häftlingsgruppen zugeordnet und zu verschiedenen Zeiten im KZ Dachau inhaftiert. Immer wieder kommen neue Biographien hinzu. Zuletzte habe ich, ein junger Historiker aus Tirol, zwei neue Biographiemappen erstellt.
Georg Tauber
Eine ist Georg Tauber (1901-1950) gewidmet. Georg Tauber war von 1940 bis zur Befreiung durch die Amerikaner in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Natzweiler-Struthof und Dachau inhaftiert. Nach der Befreiung kämpfte er um Anerkennung für die „vergessenen KZ-Opfer“, die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgten ehemaligen Häftlinge. Den Großteil seines Lebens verbrachte der 1901 in Rosenheim Geborene in Bayern und Franken. Durch seine Lebensstationen in verschiedenen bayrischen und fränkischen Orten eröffnet die Biographie des als „asozial“ verfolgten Künstlers auch viele Anknüpfungsmöglichkeiten in der Arbeit mit Schüler_innengruppen aus dem Süddeutschen Raum. Georg Taubers Zeichnungen und Aquarelle sind Zeugnisse des Alltags und der Geschichte des Lagers Dachau. Einen besonderen Einblick geben Bilder aus seinem Gesamtwerk auch in die frühe Zeit nach der Befreiung im Frühjahr 1945. Bilder von ihm waren Beweisstücke in den Dachauer Prozessen und im Nürnberger Ärzteprozess. Die Biographie von Georg Tauber ermöglicht so einen Blick in die erste Zeit nach der Befreiung mit der „Rückkehr in den Alltag“, Gedenken an die ermordeten Kameraden und der Strafverfolgung der Täter_innen durch die Alliierten. Alles Themen, die oft nicht im Zentrum des Schulunterrichts stehen. Bis Ende Februar 2018 war Georg Tauber außerdem eine Sonderausstellung in der KZ-Gedenkstätte Dachau gewidmet.
Max Kellner
Die Zweite Mappe ist Max Kellner (1896-1980) gewidmet. Er war von Juni 1938 bis April 1940 in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg inhaftiert. Von 1913 bis zu seinem Tod war er eng mit der Pfadfinderbewegung verbunden. Weil er sich als Pfadfinderführer für ein freies, unabhängiges Österreich und die Völkerverständigung engagierte wurde er sofort nach dem „Anschluss“ im März 1938 in Wien verhaftet. Gemeinsam mit vier Freunden aus dem „Österreichischen Pfadfinderbund“ wurde er nach Dachau verschleppt. Nur Max Kellner und Karl Prochazka überlebten. Fritz Toffler, Dr. Fritz Ungar und der Ingenieur Hans Singer starben in Buchenwald und Auschwitz. Schriftliche Erinnerungen, Briefe, Zeitschriftenbeiträge und offizielle Dokumente geben Einblick in das Leben eines ganz durchschnittlichen Menschen vor, während und nach der nationalsozialistischen Verfolgung. Die vorhandenen Quellen ermöglichen es die Situation von ehemaligen „politischen“ Häftlingen in Österreich nach 1945 darzustellen. Max Kellners Lebensweg als in einem Jugendverband Engagierter, Mitarbeiter von Jugendzeitschriften und Jugendbuchautor bietet Anknüpfungspunkte an die Lebenswelten von Jugendlichen heute. Max Kellner war einer der Häftlinge, die im Januar 1939 nach einem Fluchtversuch anderer Häftlinge am Appellplatz des KZ-Dachau eine Nacht im Freien stehen mussten. In einem Brief aus dem Jahr 1951 schildert er diese Erlebnisse, die heute oft in Rundgängen in der KZ-Gedenkstätte aufgegriffen werden, akribisch.
Durch eine Vielfalt an Biographien kann einerseits die Diversität der im KZ Dachau inhaftierten Menschen greifbar werden und andererseits auf die Interessen von Jugendlichen und Erwachsenen eingegangen werden. Die zwei neuen Biographiemappen sind daher eine Bereicherung für die Bildungsarbeit im Max Mannheimer Studienzentrum.
Artikel von Philipp Lehar, Praktikant im Max Mannheimer Studienzentrum im Februar/März 2018